zu G. Verdi: Requiem, Dies Irae
Bleistift, Acryl, Knetmasse und Papier auf Holz appliziert
50 x 60 cm
ÜBER DIE RELIGIONEN
Im Zentrum des prachtvollen, himmlischen Gartens,
da stand eine riesige Eiche.
Die Wurzel der Eiche versah ihre Äste
mit allem, das nötig war, stets auf das Beste,
und jeder Zweig galt ihr das gleiche.
Nun kam es, dass einer der Äste sich rühmte,
die Stimme der Wahrheit zu hören.
Ihm weissagte einst ein ekstatischer Traum,
er allein sei der einzige wahrhafte Baum,
erwählt, alle Zweige zu lehren.
Verzückt schrie der Ast seine Mitäste an,
von Machtgier und Stolz übermannt:
“In mir wohnt die Wahrheit, die euch alle nährt!
Und folgt ihr mir nicht, seid ihr weniger wert,
als lausige Bröselchen Sand.”
Ein paar überspannte und morschere Zweiglein
vernahmen die flammenden Reden.
Der Ast war belaubt, und sie selbst waren nackt.
Drum schlossen die Zweiglein mit ihm einen Pakt
und weihten ihm dankbar ihr Leben.
Indes kroch aus jedem verborgenen Winkel
des Blattwerks ein Schreihals ans Licht
und wurde, kaum sprach er, von allen verachtet,
denn jeder Zweig hatte die Wahrheit gepachtet
und gönnte sie anderen nicht.
Die uralte, mächtige Wurzel verfolgte
befremdet den törichten Spaß
und sandte trotz allem mit äußerster Kraft
an all ihre Kinder den nährenden Saft.
Doch die frönten stur ihrem Hass.
Vergeblich beschwor sie die streitenden Brüder:
„Wer Wahrheit erkämpft, ist ein Narr!“
Doch gleichzeitig brüllte der gierige Krieg:
„Durch mich führt die Wahrheit euch alle zum Sieg“,
obgleich siegen unmöglich war.
Drei Schlachtrufe später verwelkten die Äste
und starben der Reihe nach ab,
denn das, was sie einst miteinander verbunden,
war ihnen für ewige Zeiten entschwunden.
Die Baumkrone glich einem Grab.
Das Band zum beschützenden Stamm war zerbrochen
an Machtwahn, Verblendung und Lügen.
Schon längst ist das faulige Eichenlaub fort.
Der Wurzelstock aber steht heute noch dort
und schmückt sich mit taufrischen Trieben.
© Marc Andeya-Trefny