zu Johannes Brahms: 'Guten Abend, gut' Nacht'
Buntstiftzeichnung, Pastell, Acryl, Kunstmoos, Waldboden
70 x 50 cm
In Privatbesitz
UNVEREINBARE WELTEN
“Ich konnte nicht schlafen”, erzählte der Junge,
“da hab’ ich spätnachts noch gelesen.
Das Märchen beschrieb eine Stadt in den Wolken.
Ich bin dort schon öfters gewesen.
Inmitten des Traummeers, am Grat eines Felsens,.
erhebt sich die Stadt zu den Sternen.
Die baumeln am Himmel an goldenen Fäden
wie tausende kleine Laternen.
Wer immer es wünscht, kann die Nacht dort verbringen.
Man braucht dafür relativ wenig:
ein paar Tröpfchen Mut, eine Prise Gemütlichkeit -
schon ist man Prinz oder König.
Vielleicht, Papa, möchtest du mit mir versuchen,
heut Nacht in die Stadt zu gelangen.
Dort gleicht jeder Traum einem seltenen Vogel.
Du könntest den buntesten fangen.
Und fängst du ihn ein und erfährst sein Geheimnis,
so halt’ ihn nicht fest, lass’ ihn fliegen.
Sonst fiele er wie eine Träne zu Boden
und bliebe dort seelenlos liegen.”
“Das alles ist Unsinn!”, erklärte der Vater,
"Ich weiß ja, du kannst nichts dafür,
denn Bücher wie deine sind weniger wert
als verziertes Toilettenpapier.
Du musst endlich lernen, dich nicht hinter Märchen
und wirren Ideen zu verstecken!
Dann wirst du die Gabe des klaren Verstandes
als Schlüssel zur Wahrheit entdecken.
Im wirklichen Leben, mein träumendes Söhnchen,
zählt nur, wer gut plant und klar denkt,
und nicht, wer den kostbaren Schatz seiner Sinne
an Phantastereien verschenkt.
Was sichtbar ist, gibt es. Was lebt, ist erklärbar.
Das Messbare nur hat Gewicht.
Und was sich dem Prüfstand des Denkens verweigert
- nun, das existiert einfach nicht.
Ein Kind, das nicht lernt, statt der Märchengestalten
sein Köpfchen regieren zu lassen,
wird nicht bloß sein Lebtag in Luftschlössern hausen.
Es wird seine Zukunft verpassen.”
“Nur weil du die Stadt mit den fliegenden Träumen
nicht seh‘n kannst, so ist sie doch hier.
Ihr Großen seid blind für die deutlichsten Zeichen
und denkt, ihr wärt weiser als wir.
In meiner Welt ist es nicht wichtig zu planen.
Man lernt, dem Moment zu vertrauen.
Das Traummeer verschlingt alle Ängste und Sorgen,
die euch eure Zuversicht klauen.”
“Der Wohlstand, mein Söhnchen, vertreibt uns die Sorgen.
Dein Traummeer kann Geld nicht ersetzen.
Und nur wer verdient, kann auch sorgenfrei leben.
Wer kein Geld hat, lernt es erst schätzen.
Dein Leben wird erst durch den Wohlstand zum Märchen.
Und stehst du auf eigenen Beinen,
so brauchst du sie nicht mehr, die kindischen Träume,
die dir heut so wichtig erscheinen.”
“Und doch kann es sein”, rief das Kind,
“dass in Wahrheit der Traum Teil der Wirklichkeit ist.”
“Ich glaube wohl eher”, parierte der Vater,
"dass du bloß ein Traumtänzer bist.”
Da murrte der Kleine: “Jetzt sehe ich endlich
die Schwachstelle deiner Geschichten!
Dein Märchen vom Wohlstand zerstört deine Träume.
Auf deine Welt kann ich verzichten!”
© Marc Andeya-Trefny